#15 Wann startest du dein „Outing“?

„Das kann ich nicht sagen, dafür schäme ich mich zu sehr!“ „Was die Leute wohl denken, wenn sie das mitbekommen?“ „Jeder kann es, nur ich kann es nicht!“

Solche und ähnliche Sätze kommen gerne in uns hoch, wenn es in uns rumort. Wenn wir ein Thema in uns tragen, dass uns innerlich zerreißt. Dabei ist es unwichtig, ob es sich um eine kleine Entscheidung oder ein existenzielles Projekt handelt. In diesem Augenblick ist es ein Thema, dass uns nicht zur Ruhe kommen lässt und schlimmstenfalls den so wichtigen Schlaf raubt. Es ist auch despektierlich, wenn man dieses Dilemma vielleicht „nur“ als Luxusproblem abtut. Dieser „Lebensschmerz“ ist das zentrale Thema, welches uns drückt und ist somit ein ernstzunehmender Aspekt.

Wir geraten dadurch in Stress, weil wir uns immer noch mehr unter Druck setzen. Dieser Stress beherrscht uns dann Tag für Tag und je mehr wir uns nach unten ziehen, desto größer ist die Gefahr, dass es uns krank macht. Nicht selten führt es zu Depression, Suchtverhalten, Burnout und in extremen Fällen sogar zum Suizid. Ein Gefühl, wie wenn wir mitten in einem Feuer sitzen würden. Es wird immer heißer und wir kommen nicht mehr heraus.

Stress von Männern und Frauen

In den letzten Jahren hat der Stress bei den Männern signifikant zugenommen. Das lässt sich aus einer Studie der Technikerkrankenkasse (TK) aus 2021 feststellen. Waren es 2013 nur ein Drittel der Männer, so sind Frauen und Männer jetzt fast gleichauf. Die Frauen waren damals noch ziemlich alleine den Belastungen von Haushalt und Kindererziehung ausgesetzt. Hier hat sich eine Wandlung vollzogen. So wirken sich bei den Männern heute neben ihrem eigentlichen Job, die teilweise Übernahme dieser Tätigkeiten in Form von Elternzeit und Haushalt in negativen Stress aus.

Darüber hinaus könnte unbewusst noch das Leistungsstreben einwirken, es allen recht zu machen und am besten noch fehlerfrei und in Perfektion. Was meine ich damit?

Das Leistungsprinzip von Männern und ihre unbewussten Glaubenssätze

Ich möchte dies anhand eines eigenen praktischen Beispiels versuchen, da ich (mich am besten kenne und) mit 54 Jahren in eine Generation geboren wurde, die den Wohlstand erleben durfte und noch darf. Sicherlich liegt der Ursprung, dass es mir gut geht in den Wurzeln meiner Väter. Nach dem Krieg haben sie sich ihre Existenzen aufgebaut und wichtig war in diesem Falle das nackte Überleben oder der tägliche Kampf die Familie zu versorgen.

Was mir dabei übertragen wurde? Genau dieses Leistungsprinzip, welches mir geholfen hat ein gutes (wohlstandorientiertes) Leben zu führen. Auf der anderen Seite bekam ich lebensprägende Aussagen mit, die mich in eine selbstauferlegte Begrenzung gebracht haben. In Sätzen ausgedrückt etwa so:

• „Nur wer hart arbeitet, wird belohnt“.
• „Sitze nicht faul herum, sondern arbeite was“
• „So wird nie etwas aus dir werden“
• „Schaue mal den oder den an, so musst du sein“
• „Ein Mann kennt keine Schmerzen“
• „Jammere nicht herum und mach was“
• „Jungen weinen nicht und haben keine Angst“
• „Mach uns keine Schande“

An dieser Stelle sei gesagt, dass dies kein Vorwurf an meine Väter ist – sie konnten und kannten es nicht anders. Sie übertrugen jedoch das unbewusste Leistungsprinzip direkt an mich und ich habe es als Kind ohne zu hinterfragen, einfach übernommen. Dadurch rannte ich unbewusst mit diesen Sätzen und Übertragungen durch die Gegend und versuchte es seitdem so gut wie möglich hinzubekommen.

Wenn ich mir diese innerlichen Sätze nicht irgendwann BEWUSST gemacht hätte, dann liefe ich heute noch ständig im Hamsterrad und fände nicht mehr heraus. Überzogen gesagt würde „der kleine Gunther“ unbewusst immer noch durch den Alltag rennen und es meinen Vätern so gut wie möglich recht machen wollen. „Ich möchte ihnen ja keine Schande machen und nicht faul herumsitzen“.

Reden hilft

Wir Männer in unserer Generation sind die nicht selten davon Betroffenen, da wir aufgrund von den genannten verkrusteten Glaubenssätzen kaum über unsere Gefühle und Gedanken reden können. Wollen vielleicht schon, nur wir trauen uns manchmal nicht. Zudem ist es nicht selbstverständlich, dass wir Partnerinnen um uns haben, die uns zuhören oder besser gesagt, auch verstehen. Und es könnte sein, dass wir Männer Angst davor haben, dass uns die Frauen als „Weicheier“ abstempeln und den nötigen Respekt verlieren, wenn unsere „harte Schale“ aufbricht. Deshalb machen wir das ganze vielleicht eher mit uns und bestenfalls mit unserem besten Kumpel aus.

Was könnte uns Männern aber passieren, wenn wir uns doch trauen und wir mutig genug wären und uns „outen“ würden? Wenn wir zu unserer „Schwäche“ stehen würden und uns frei machen von möglichen Negativszenarien?

1. Mögliche kommunikative Erlebnisse

Vielleicht würden sich solche Aspekte daraus ergeben, wenn unser Gesprächspartner sagt:

• „Mir geht es genauso“ und damit wärst du dann nicht mehr alleine
• „Wie kann ich dich unterstützen?“ und du hättest eine Anlaufstelle
• „Hey, das ist doch nicht schlimm, das hat ja mit deiner Persönlichkeit und deinem Charakter nichts zu tun“ und du bemerkst, dass du so wie du bist absolut richtig bist

2. Mögliche emotionale und körperliche Erlebnisse

Wichtig an dieser Stelle sind aber auch die Emotionen und Körperempfindungen, die daraus entstehen können:

• Du fühlst dich plötzlich frei, weil du es endlich gesagt hast und losgeworden bist
• Deine täglichen Probleme mit dem Magen sind weg
• Nachts kannst du wieder besser schlafen
• Dein Lachen kehrt zurück
• Du schaffst dir wieder einen besseren Zugang zum Leben und zu deinem Umfeld
• Mit diesem „Outing“ hast du dir eine positive Erfahrung geschaffen und damit jederzeit die Möglichkeit in Zukunft auf diese zurückzugreifen
• Und all das löst eine Ruhe in dir aus und du bekommst das Gefühl eines inneren Friedens

In der vorletzten Woche habe ich zum Thema „Depression, Burnout und Suizid in der Landwirtschaft“ einen tiefgehenden und emotionalen Podcast gehört. Dieser drückt in etwa diese Aspekte aus und nicht zuletzt dadurch, weil wir uns nicht öffnen können. Weil wir uns nicht trauen und weil wir es auch nicht gelernt haben, mit diesen Dingen offen umzugehen.

Wir sind Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen

Heute ist es wichtiger denn je, uns in ganzer Form als Mensch zu zeigen. Unsere Gefühle anderen Menschen anvertrauen, die uns nahestehen oder die ausgebildet sind, uns den notwendigen psychischen Rückhalt zu geben. Dabei sei angemerkt, dass hierbei auch ein Glaubenssatz in uns angelegt sein kann: „wenn ich einen Psychologen oder Therapeuten aufsuche, bin ich verrückt“.

Diesen gilt es zu überwinden und sich vielleicht zu fragen: „Was würde passieren, wenn dein dich beschäftigender Lebensschmerz aufgelöst wäre? Wie würde es sich anfühlen? Wie würde sich dadurch dein Leben verändern?“

Mit genau diesen Fragen habe ich mich beschäftigt, bevor ich all meinen Mut zusammengenommen habe und meine Schwimmlehrerin angerufen habe.

Mein eigenes „Outing“

Denn, ich habe mich vor sechs Wochen „geoutet“. Ich habe durch ein traumatisches Erlebnis Angst vor der Tiefe im Wasser. Somit ist Schwimmen für mich eine große bis fast unüberwindbare Herausforderung. Dadurch hatte ich aber nach außen immer das Gefühl, nicht (zur Gesellschaft) dazuzugehören. Ich hatte Angst davor, ausgelacht zu werden und ich hatte das Gefühl, dass ich der Einzige auf der Welt bin, der in diesem Alter nicht schwimmen kann. All das hat mich blockiert, dieses Thema anzugehen, weil ich Angst vor diesen möglichen Konsequenzen hatte und es deshalb stetig hinausgeschoben habe.

Ich habe mich nun zu einem Schwimmkurs angemeldet, weil ich das Ziel habe, künftig mit meiner 5-jährigen Tochter schwimmen zu gehen. Einfach deshalb, um mit ihr ins Wasser zu springen, egal wie tief es an irgendeiner Stelle ist und wir Spaß haben, wenn wir ins Schwimmbad gehen. Dabei bemerke ich, wie ich immer mehr Vertrauen in die Tiefe bekomme und ich Schwimmzug für Schwimmzug meinem Ziel näherkomme. Dass mir dabei sonntags im Freibad Menschen zuschauen, die mich kennen, ist mir mittlerweile egal. Ich schaffe es sogar, es ihnen zu sagen, dass ich nicht schwimmen kann. Und das Schönste dabei war, als eine Frau zu mir sagte: „damit bist du nicht alleine“!

Wir Männer haben nicht erst jetzt die Wahl AUFZUBRECHEN und unseren weichen Kern in der harten Schale offenzulegen. So wie die Pflanzen eben auch, sie zeigen offen ihre Schönheit mit dem Bewusstsein, dass sie jederzeit ob ihrer Schönheit gepflückt werden können.

Liebe Frauen, an dieser Stelle sei gesagt, dass ich bewusst diesen Blog eher uns Männern gewidmet habe, mit dem Wissen, dass ihr mindestens genauso viele Ansatzpunkte für die oben genannten psychischen Herausforderungen habt. Jedoch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass wir Männer länger brauchen über solche Themen zu reden. Und vielleicht gelingt es sogar gemeinsam, dass wir noch stärker füreinander da sind.

GESTALTE DEIN LEBEN – mit der Kraft der Natur!

GESTALTE DEIN LEBEN - mit der Kraft der Natur
Gunther Reber
Gliemenbachweg 6
74523 Schwäbisch Hall
info@selbst-laeufer.de

Folge mir auf:

Impressum | Datenschutz
© 2023 Selbstläufer - Gunther Reber. Alle Rechte vorbehalten